„Die Sparmaßnahmen betreffen uns alle“
Geschäftsführung und Bereichsleitung der Lebenshilfe Gießen erläutern Streichung der Sonderzahlung für Beschäftigte in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung
Pohlheim (-). Unter der Überschrift „Verdiene doch sowieso nur 92 Cent“: Ärger über Einsparungen bei der Lebenshilfe im Kreis Gießen ist am 4. Juli 2023 ein Artikel in der Gießener Allgemeinen Zeitung erschienen, der die Streichung des sog. Urlaubsgeldes in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung zum Inhalt hat. In dem Artikel wurde der komplexe Sachverhalt sehr vereinfacht, verkürzt und ohne Einordnung dargestellt. Der Geschäftsführung der Lebenshilfe Gießen sowie der Bereichsleitung Arbeit und Bildung ist es ein großes Anliegen, hierzu Stellung zu beziehen und eventuell entstandene Irritationen auszuräumen.
Die einmalige Streichung der beiden Sonderzahlungen für Klient*innen im Werkstattbereich ist Teil eines weitreichenden, 141 Punkte umfassenden, Konsolidierungsprogramms, das ausnahmslos alle Bereiche der Lebenshilfe Gießen betrifft. „Der Eindruck, die Lebenshilfe Gießen spare sich auf Kosten ihrer Mitarbeiter*innen mit Behinderung gesund, ist faktisch falsch. Die Sparmaßnahmen betreffen uns alle. Auch das Weihnachtsgeld für das Personal insgesamt steht auf dem Prüfstand. Wir sparen auch als Entscheidungsträger an uns selbst und bis ins kleinste Detail“, betont Dr. Rebecca Neuburger-Hees, Mitglied der Geschäftsführung und Leiterin des Bereichs Kindertagesstätten. Die durch die Streichung der Sonderzahlungen eingesparte Summe macht dabei nur einen kleinen Teil des Gesamtpakets aus. „Das Geld wird benötigt, um betriebswirtschaftlich wieder auf gesunden Boden zu kommen“, konkretisiert Neuburger-Hees. Bei Besserung der wirtschaftlichen Lage werden die Sparmaßnahmen angepasst. Das heißt, eine Auszahlung des sog. Weihnachtsgeldes für die Beschäftigten in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung wäre dann doch möglich.
Die Streichung des Urlaubsgeldes bei den 713 Klient*innen im Werkstattbereich war ein Vorschlag, welcher unter Beteiligung des Werkstattrats entstand, nachdem verschiedene Alternativen abgewogen worden waren. Darüber hinaus gab es eine Veränderung bei der Bewertung von Voll- und Teilzeit hinsichtlich der Errechnung des Steigerungsbetrags. Hierbei ist wichtig zu wissen, welchen gesetzlichen Auftrag Werkstätten haben und wie sich das Entgelt der in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung zusammensetzt. „Es handelt sich um eine Reha-Maßnahme, nicht um einen Arbeitsplatz“, erklärt Jörg Langschied, Bereichsleiter Arbeit und Bildung. Sie haben den Auftrag, behinderten Menschen die nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, eine angemessene Berufliche Bildung und Beschäftigung anzubieten und zu ermöglichen, ihre Leistungs- und Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Menschen, die in Werkstätten arbeiten, finden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Arbeitsplatz, möchten aber gerne einer Arbeit nachgehen. Die Klient*innen erhalten dafür einen gesetzlich festgelegten, monatlichen Grundbetrag (126 Euro), einen leistungsabhängigen, individuellen Steigerungsbetrag bis zu 321 Euro sowie Arbeitsförderungsgeld in Höhe von 52 Euro. Das durchschnittliche Monatsentgelt liegt bei etwa 190 Euro – zusätzlich zu Grundsicherung oder Rente. „Die Arbeitsleistung erfolgt auf freiwilliger Basis, daher greift hier auch kein Mindestlohn“, erläutert Linda Hauk, Geschäftsführerin im Bereich Personal. Die beiden jährlichen Sonderzahlungen sind innerbetrieblich geregelt und nicht gesetzlich verankert. Konkret geht es um Einmalzahlungen in Höhe von durchschnittlich je 100 Euro, die durch Anrechnung auf Grundsicherung sowie Arbeitsförderungsgeld entsprechend reduziert werden.
Die Lebenshilfe Gießen arbeitet mit vielen Produktionskunden langjährig und gut zusammen. Durch diese Aufträge gibt es glücklicherweise Arbeit für die Klient*innen im Werkstattbereich. Janna Rhiel, stellvertretende Leiterin des Bereichs Arbeit und Bildung, macht deutlich, dass die Auszahlungsbeträge der Lebenshilfe Gießen nach wie vor weit über der gesetzlichen Verpflichtung liegen. „Wir haben immer vermieden, die Entgelte der Klient*innen anfassen zu müssen. Nun ist die wirtschaftliche Lage aber so, dass wir dies nicht mehr umgehen können. Die nun erfolgte Streichung wurde transparent kommuniziert, die Notwendigkeit in Einrichtungen und Vollversammlungen erklärt. Selbstverständlich stehen wir Rede und Antwort und werden die Umstände auch weiterhin in Einzelgesprächen erläutern“, so Rhiel. Mit der angespannten wirtschaftlichen Lage hat indes nicht nur die Lebenshilfe Gießen zu kämpfen. „Bundesweit ist es so, dass Werkstätten für Menschen mit Behinderung in ihrer Wirtschaftlichkeit an Grenzen geraten sind und auch bei den Entgelten Einsparungen vornehmen müssen. Diese Entwicklung ist politisch kritisch zu betrachten. Wir setzen uns dafür ein, dass sich insgesamt die Finanzierungsproblematik in den Werkstätten zu Gunsten der Menschen mit Behinderung verändert. Derzeit sind wir aber an den aktuellen rechtlichen Rahmen gebunden“, fasst Rhiel zusammen.
Die Gründe für die eingeläuteten Sparmaßnahmen bei der Lebenshilfe Gießen sind vielfältig. „In der Coronazeit blieben die Werkstätten lange Zeit geschlossen, die Entgelte wurden dennoch weitergezahlt. Es folgten der Ukraine-Krieg und Inflation sowie dadurch massiv gestiegene Energiekosten, gerade für die Produktion in den Werkstätten“, führt Linda Hauk aus. Hinzukamen die aufgrund verschiedener Tarifrunden gestiegenen Gehälter der pädagogischen Fachkräfte nebst Inflationsausgleichsprämie. „Dies war notwendig, hier wird tolle Arbeit geleistet, aber wir merken das natürlich“, sagt Hauk. Die höheren Ausgaben wurden nicht direkt durch den Kostenträger Landeswohlfahrtsverband refinanziert. „Das alles sind Kostenfaktoren, die wir stemmen müssen. Wir hoffen, dass sich die wirtschaftliche Lage durch das aufgestellte Konsolidierungsprogramm nun stabilisiert und gehen davon aus, im kommenden Jahr die Sonderzahlungen wieder wie gewohnt aufnehmen zu können“, so Hauk.