„Wäre damals selbst Opfer von Ausgrenzung gewesen“

Samstag, 27. Januar 2024

Werkstattrat Daniel Tabert und Lebenshilfe Gießen gedenken ermordeter Menschen mit Behinderung während NS-Schreckensherrschaft

Pohlheim (-). Vor 79 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die sowjetische Armee das Konzentrationslager Auschwitz, das bis heute wie kaum ein anderer Ort für die Verbrechen und Gräueltaten der Nationalsozialisten steht. Allein in Auschwitz verloren über eine Millionen Menschen ihr Leben. Seit 1996 findet an diesem Datum der bundesweite „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ statt, ferner erklärten die Vereinten Nationen den 27. Januar im Jahr 2005 zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts“. Die Lebenshilfe Gießen macht ebenfalls alljährlich auf den Gedenktag aufmerksam und erinnert dabei auch auf die Leiden und Schicksale von rund 300.000 kranken und behinderten Menschen, die während der NS-Schreckensherrschaft systematisch ermordet wurden - darunter auch 14.500 Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen, die zwischen 1941 und 1945 in der damaligen Tötungsanstalt im mittelhessischen Hadamar ums Leben kamen.

Einer, der sich in diesen Tagen besondere Gedanken um dieses dunkle Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte macht, ist Daniel Tabert. Der 42-jährige Biebertaler arbeitet in der Reha-Werkstatt Gießen Mitte Lebenshilfe Gießen, einer Einrichtung für Menschen mit chronisch psychischen Erkrankungen, wo er als Werkstattrat tätig ist. Ferner ist Tabert überregional im Vorstand der Werkstatträte Deutschland, einer Interessensvertretung von und für Menschen mit Handicap, aktiv.

„Ich habe Epilepsie und wäre damals selbst Opfer von Ausgrenzung gewesen. Auf Landes- und Bundesebene bin ich für Menschen tätig, denen in der Nazizeit das gleiche Schicksal widerfahren wäre - uns hätte man damals als sogenannte Volksschädlinge oder, wie man auch menschenverachtend sagte, Ballastexistenzen, abgetan. In Zeiten, in denen Ausgrenzung und rechte Strömungen immer präsenter werden, beschäftigen einen die Geschichte und ein Datum wie der 27. Januar natürlich noch viel mehr. Daher haben wir uns innerhalb der Werkstatträte auch klar und öffentlich positioniert und rufen zu einem Umdenken innerhalb unserer Gesellschaft auf“, erläutert Daniel Tabert, auch mit Blick auf Aussagen von AfD-Frontmann Björn Höcke, der im vergangenen Sommer in einem Interview mit dem MDR für Aufsehen gesorgt und die inklusive Beschulung von Kindern mit Behinderung abwertend als „Ideologieprojekt“ bezeichnet hatte.

Achtsam sein gegen Diskriminierung

Maren Müller-Erichsen, Aufsichtsratsvorsitzende der Lebenshilfe Gießen sowie Vorstands- und Gründungsmitglied des Fördervereins der Gedenkstätte Hadamar, und Dirk Oßwald (Vorstand Lebenshilfe Gießen) pflichten Tabert bei: „Auch fast 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz dürfen die verbrecherischen Taten des Hitler-Regimes nicht vergessen werden. Als Lebenshilfe Gießen setzen wir uns seit Jahrzehnten für eine inklusive und offene Gesellschaft mit einer demokratischen Grundordnung ein und sind froh in einem Land zu leben, das 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention, die allen Menschen das Recht auf Gleichberechtigung und Teilhabe versichert, ratifiziert hat. Dennoch müssen wir achtsam sein und uns gegen politische und gesellschaftliche Strömungen, die Menschen aufgrund äußerer Merkmale verachten - sei es aufgrund einer Behinderung oder etwa eines Migrationshintergrundes -, hüten und wehren.“

Daniel Tabert wünscht sich ein „Miteinander auf Augenhöhe“, wie er sagt: „Auch in Deutschland des Jahres 2024 stoßen Menschen mit Behinderung mitunter auf Ablehnung und Vorurteile. Angesichts hochentwickelter vorgeburtlicher Untersuchungsmethoden müssen sich Eltern eines behinderten Kindes immer wieder Kommentare wie diesen anhören: Musste das sein, habt ihr das denn nicht gewusst?“ Oftmals führe die vorgeburtliche Diagnose einer Behinderung zur Abtreibung, weil sich die Eltern in einer auf Leistung und Optimierung getrimmten Gesellschaft das Leben mit einem behinderten Kind nicht zutrauten, ergänzt Müller-Erichsen.

Kranzniederlegung in Berlin

Am 31. Januar 2024 werden um 12.00 Uhr Vertreter*innen der Bundesvereinigung Lebenshilfe am Gedenk- und Informationsort für die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin einen Kranz niederlegen. Dies findet im Rahmen der Gedenkveranstaltung des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, statt.